Alles begann Ende Mai

Ein Gastbeitrag von Maren Heldt-Klötzke.

Antirassistische Bücher erklimmen Bestsellerlisten. Zu Recht, kann ich sagen, nachdem ich zwei gelesen habe. Die Lektüre hat mich verändert. Ein persönlicher Erfahrungsbericht.

Alles begann Ende Mai. »Mama, in Amerika hat ein Polizist einen Schwarzen Mann umgebracht und ich habe ein Video davon gesehen!« Oh Gott. Ich schaue es mir an und muss George Floyd beim Sterben zusehen. Der weiße Polizist, der ihm sein Knie auf den Hals drückt und ihm die Luft nimmt, schaut selbstgefällig, beinahe triumphierend, direkt in die Kamera. Diese Bilder brennen sich ein.

Ich suche weitere Informationen. In den sozialen Medien geht es rund. Überall wird der Hashtag #BlackLivesMatter verbreitet. Selbstverständlich zählen Schwarze Leben, denke ich. Aber mich irritiert, wenn weiße Bekannte einen Nachruf auf George Floyd damit posten, weil man das so macht. Für die einen ist es ein Hashtag, der ihre Betroffenheit markiert. Für die anderen, die Betroffenen, geht es ums Leben. Die Irritation bleibt. Jedes Leben ist wertzuschätzen. Geht es nicht um alle Leben und alle Minderheiten? Trennen wir, indem wir über Schwarz und Weiß reden, sind nicht alle bunt? Ich fühle mich fortschrittlich. Und außerdem, hier in Deutschland ist es »nicht so schlimm«? Autsch. Mit genau solchen Gedanken machen wir es uns unter der Decke der Ignoranz gemütlich. Das dämmert mir im Austausch mit einem aktivistisch tätigen Freund. Er klärt mich auf: Genau das sei der Punkt, aktuell geht es um das Leben der Schwarzen und nicht um das Leben aller. Darum #BlackLivesMatter. Der Hashtag #AllLivesMatter werde von denen missbraucht, die den systemischen Rassismus in den Vereinigten Staaten leugnen. Beschämt google ich weiter und finde eine tränenreiche Erklärung des Schauspielers Ashton Kutcher: Solange für manche Menschen Schwarze Leben nicht zählen, ginge es darum, sich mit #BlackLivesMatter zu solidarisieren.

Noch mehr lerne ich von James Corden und Olivia Harewood. Vor laufender Kamera gibt der weiße Moderator den Ahnungslosen und lässt sich von seiner Schwarzen Texterin vorführen, als er Tipps zum Kampf gegen Rassismus geben will. Sie ermuntert ihn: Er habe dazu ein »wunderbares Werkzeug«. Er rätselt: sein Berühmtsein, seine Plattform oder sein Charisma? und zeigt sich schuldbewusst, als sie antwortet: sein White Privilege. Schuldgefühle seien normal, sagt sie. Das Privileg sei jedoch nicht sein Fehler, sondern etwas Geerbtes. Privileg bedeute weder ein wohlhabendes oder einfaches Leben, sondern dass die eigene »Hautfarbe einem das Leben nicht schwerer« mache. Etwa, weil einem eine Wohnung verwehrt werde oder weil man bei der Arbeit einer Minderheit angehöre und den Kollegen White Privilege erklären müsse – wie jetzt der Fall. »Du hast eine Wohnung nicht bekommen?« Nein, erwidert sie und holt zur Pointe aus. »Ich erkläre jemandem, mit dem ich arbeite, White Privilege Corden fühlt sich ertappt. Ich auch. Sich der eigenen Blindheit bewusst zu werden, ist sehr unangenehm. Doch der Charme der beiden hilft die eigene Scham zu überwinden. Harewood erklärt abschließend, dass Weiße ihr einmal erkanntes Privileg – das »wunderbare Werkzeug« – nutzen können, um für Schwarze einzutreten. Und sei es, ihnen zuzuhören, ohne eigene Gefühle in den Mittelpunkt zu stellen.

Bisher hielt ich mich für einen aufgeklärten Menschen mit Verständnis für Minderheiten. Schließlich zähle ich mich selbst dazu, ich bin deutsch-japanischer Herkunft. Doch offensichtlich habe ich Nachholbedarf. Ich will wissen, was über Rassismus im eigenen Land zu lernen ist und greife zum Buch von Noah Sow: »Deutschland Schwarz Weiß«, 2008 erschienen und 2018 neu aufgelegt.

Vorweg: Ich habe es überaus kritisch gelesen. Als ob ich ungerechtfertigte Rassismusvorwürfe erwartete oder befürchtete, die Legitimation von Buch und Autorin infrage stellen zu müssen. Beim Lesen kam mir der Verdacht, damit die typische Abwehrhaltung angesichts antirassistischer Kritik einzunehmen. Die Bestätigung folgte prompt. Dieser Abwehrmechanismus ist ein Grundproblem des Rassismus. Darüber wurden viele weitere Bücher geschrieben, wie das empfehlenswerte, gut recherchierte und klug geschriebene »Warum ich nicht länger mit Weißen über Hautfarbe spreche«der Journalistin Reni Eddo Lodge (mit Fokus auf UK). Das zweite Buch, das ich las.

Zurück nach Deutschland. Noah Sow dreht den Spieß um und lässt uns durch die kolonialistische Brille blicken – auf ein verzerrtes Bild der Heimat. Sie liefert Unmengen konkreter Beispiele von Alltagsrassismus, selbst erlebt, in der Sprache, durch die Polizei, in der Schule, im Sport, in sämtlichen Medien, in Beziehungen und in Familien. Ihr Beispielmosaik zeichnet ein Bild des oftmals verdeckten Rassismus hierzulande und schult den Leserblick. Besonders hilfreich fand ich Sows Rückblick auf den deutschen Kolonialismus und die zweitausend Jahre alte Geschichte der Afro-Europäer – an beide Themen kann ich mich aus dem Geschichtsunterricht zumindest nicht erinnern. Sehr erhellend sind ihre Definitionen: Wie sind die Begriffe schwarz, weiß, »People of Color« sowie Varianten einzuordnen und sind sie politisch korrekt? Kurz: Das Buch bietet fundiertes Basiswissen. Seinen Lesern eröffnet es die Chance, nicht mehr unfreiwillig zu Komplizen des Alltagsrassismus zu werden.

Mein stärkster Lerneffekt war sehr persönlich. »Liste dummer Sprüche, die wir nie wieder hören wollen« lautet ein Kapitel. Sie liest sich für mich wie eine Checkliste. Sowas musste ich mir als Deutsche mit asiatischer Herkunft auch anhören! Schmerzliche Erinnerungen werden wach. Wie oft versuchte ich besten Freunden zu erklären, dass ich mich durch bestimmte Aussagen getroffen fühlte. Wie oft musste mir anhören: »Sei nicht so empfindlich!« oder »Das ist doch freundlich gemeint«. Auf Dauer verunsichert es zutiefst, wenn einem die Deutungshoheit, eigene Wahrheit und Identität aberkannt wird. Nun habe ich es schwarz auf weiß: Es war Rassismus. Jedes Mal. Meine innere Stimme ist befreit.

Meine Überzeugungskraft ist weniger gewaltig. Meinen Mitmenschen trage ich das Thema vor: Alle nicken, alle haben Verständnis. Das wars dann aber auch. Keiner will mehr wissen? Das aktuelle Geschehen in den USA ebenso wie die Krawalle bei uns am Opernplatz rufen nach einem tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel. Wie soll dieser gelingen, solange Rassismusvorwürfe für Weiße schlimmer sind als der Rassismus an sich? Solange wir unterschiedliche Lebensrealitäten und das eigene Privileg nicht anerkennen? Wer Hautfarben nicht sieht oder zum alltäglichen Rassismus schweigt, wird zum Komplizen. 

»Papa hat die Welt verändert«, sagte die 6-jährige Tochter des ermordeten George Floyd. Der Anwalt der Familie verbreitete ihr Zitat auf Instagram. Ich möchte ihr sagen: »Ja, Gianna. Der Tod deines Vaters hat uns verändert – wir können nicht mehr wegsehen.« #BlackLivesMatter. Es reicht nicht, dass wir mit Euch fühlen. Ein antirassistisches Buch zu lesen ist ein erster Schritt. Wir werden für Euch einstehen. Es soll kein Zurück mehr geben. 

Einladung zum Lesen

Grundlage für diesen Beitrag

Diese zwei Bücher Schwarzer Autorinnen sind als Einstieg sehr zu empfehlen und wurden im Beitrag erwähnt:

Weitere erwähnenswerte Bücher


Der Text erschien erstmals in: Wir am Dornbusch, Stadtteilzeitung der evangelischen Dornbuschgemeinde, Ausgabe 111, Sep/Okt/Nov 2020